Warum sind Videokonferenzen so anstrengend?

28.04.2020

Das blaue Icon mit der weißen Kamera ist bei vielen mittlerweile genauso ungeliebt wie der WhatsApp-Video-Call, das grüne Facetime-Icon oder die Namen Skype, Microsoft Teams und Cisco Webex Meeting. Warum? Na weil Videokonferenzen anstrengend sind. Aber wieso eigentlich? 

Der Lehrer der Kinder schaut auf einmal durch den Computerbildschirm in die eigenen vier Wände, die Kolleginnen und Kollegen aus dem Büro trifft man seit Wochen nur mehr in Videokonferenzen, Seminare werden online abgehalten, Familien sehen sich abends digital und "Zoom" hat für die meisten im Moment nichts damit zu tun, ein Bild näher heranzuziehen.

Die Mitte März (neu) entdeckte Begeisterung für Videotelefonie mit Freunden und Familie scheint aktuell einer gewissen Video-Verdrossenheit gewichen zu sein. Einige setzen nach einem langen Tag voller sich teils stockend bewegender Gesichter und voller viel zu deutlich erkennbarer Nasenlöcher am Bildschirm abends privat wieder auf ein entspanntes Telefonat.

Sind Videokonferenzen wirklich anstrengender als reale Treffen?

Aber wo ist denn jetzt der Unterschied, ob wir unsere Ausbildung via Videokonferenz absolvieren, Klientinnen und Klienten über Online-Tools beraten oder das Achterl Wein am Abend mit Freunden und der Familie über den Bildschirm genießen? Oder gibt es überhaupt keinen Unterschied und ist es nur subjektives Empfinden, dass ein digitaler Video-Call ermattender als ein netter Plausch face to face ist?

Physical distance – hat den Videochat revolutioniert.
Physical distance – hat den Videochat revolutioniert.

Informationen werden im Online-Meeting anders verarbeitet

Tatsächlich gibt es Studien, die sachlich belegen, was wir längst spüren: Online-Meetings SIND anstrengender als Konferenzen in der Realität. Manche Experten schätzen den Ermüdungsfaktor von digitalen Konferenzen sogar als doppelt so groß wie bei klassischen Meetings ein. Stephanie Watts von der Universität Boston publizierte Ergebnisse zur Anstrengung bei Video-Calls bereits 2008 in der Fachzeitschrift "Management Science". Ihr Kollege Carlos Ferran von der Universität Pennsylvania fand in Tests heraus, dass bei Videokonferenzen mehr auf das Auftreten des Gastgebers geachtet wird als auf den Inhalt des Gesagten. Gruppen, die den gleichen Vortrag jeweils digital bzw. persönlich anwesend hörten, verarbeiteten laut Ferrans Ergebnissen die Vortragsinhalte unterschiedlich. Die gesamte Bandbreite der inhaltlichen Information digital zu erfassen, erfordert also mehr Konzentration, als es bei der physischen Teilnahme am gleichen Meeting der Fall wäre.  

Technische Faktoren, die Videotelefonie anstrengend machen

Es sind vor allem auch technische Gründe, die bei Video-Calls Konzentrationsmaßnahmen erfordern, die bei realen Treffen nicht erforderlich sind:

  • Man versucht selbst, deutlicher, bewusster und oftmals auch lauter zu sprechen, um sicherzustellen, gut verstanden zu werden.
  • Ton und Bild stocken gelegentlich, weshalb wir manche Zusammenhänge aus Kontexten schließen müssen, was unser Hirn ganz schön fordert.
  • Rückkoppelungen, Gesprächspausen und die Tatsache, dass immer nur einer bzw. eine sprechen und dabei auch gut verstanden werden kann, erfordert neue Herangehensweisen an die Kommunikation in der Gruppe.
  • Der ständige Blick auf den Bildschirm ermüdet zusätzlich.
Digitaler Unterricht? Ist sinnvoll aber anstrengend!
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Emotionale Faktoren für Ermüdung bei Online-Meetings

Unabhängig von den technischen Hürden sehe ich als psychologische Beraterin drei weitere – emotional-psychologische – Faktoren in der zentralen Verantwortung, die das Erschöpfungsgefühl nach Videokonferenzen begründen können:

  1. Das Gefühl für Stimmungen ist ein anderes. Nennen Sie es "sechsten Sinn", "Intuition", "Bauchgefühl" oder "Übertragung und Gegenübertragung" – wir Menschen erfassen Stimmungen auf vielfältigen Ebenen. Ein Teil der non-verbalen Kommunikation schwingt digital anders mit als in der Realität. Das Bild in Videokonferenzen ist oft nicht gestochen scharf, Stimmen klingen teils mechanisch. Die Stimmung des Gegenübers, die wir Menschen in der realen Begegnung gelegentlich fast körperlich wahrnehmen können, ist durch die digitale Barriere schwieriger zu erfassen. Der (unbewusste) Wunsch, unseren Gesprächspartner trotzdem zur Gänze wahrzunehmen, bedeutet zusätzliche Konzentrationsfähigkeiten und damit Potenzial für Ermüdung.
  2. Im virtuellen Raum können wir viel weniger erfassen als in der Realität. Es gibt quasi keinen Augenwinkel. Wir wissen nicht, was sich einen Meter vor bzw. einen Meter neben der Person, mit der wir gerade sprechen, abspielt. Wir können nur einen sehr kleinen Radius sehen bzw. erfassen. Selbst wenn wir dem Menschen gegenüber blind vertrauen, fragt sich ein unterbewusster Teil in uns womöglich trotzdem: Wer hört hier noch mit? Was ist da vielleicht, was ich nicht sehen und kontrollieren kann? In der Realität genügt hier ein Blick zu Seite, der beim Videotelefonieren so nicht möglich ist. Gleichzeitig sind wir in unseren Hinterköpfen – eventuell sogar oft nur im Unterbewusstsein – gerade bei intimen und persönlichen Themen, über die wir uns mit Familie und Freunden austauschen, auf der Hut: Wie ist die Sicherheitslage? Kann sich jemand dazu hacken? Eine mögliche Energie anzapfende, nebenbei ablaufende Strategie unseres Unbewussten könnte also sein, digital besonders umsichtig zu kommunizieren. Auch das kann zusätzliche Anstrengung bedeuten.
  3. Positivität aufrecht erhalten. Gerade wenn wir mit Menschen, die uns nahe stehen, digital sprechen, erinnern wir uns daran, wie sehr uns vielleicht eine Berührung, eine innige Umarmung oder ein herzliches Küsschen fehlt. Die Menschen virtuell zu sehen, erinnert uns daran, wie sehr wir sie vielleicht vermissen. Aber es hilft ja alles nichts – im Moment kommt mit vielen Nahestehenden physische Nähe eben im Sinne der Gesundheit nicht infrage. Sich trotz dieser möglicherweise vorhandenen Sehnsucht oder gar leisen Traurigkeit optimistisch und positiv zu zeigen, kann unserer Psyche ebenso Anstrengung kosten.

Sie sehen schon: Es gibt viele verschiedene Ebenen, die erklären können, warum uns Videokonferenzen mittlerweile so ermüden. Ganz abgesehen davon, dass die Anpassungsleistung, die von uns Menschen in der Corona-Krise plötzlich gefordert wurde, ohnehin viel von unserer Energie kostet.


Aus jetziger Sicht scheint es so, als könnte bald wieder leise und langsam so etwas wie Normalität einkehren. Wenn Sie das Gefühl haben, dass es Ihnen im Moment an Zuversicht fehlt und Sie Unterstützung bei der Bewältigung des emotionalen Alltags benötigen, kann die psychologische Beratung eine hilfreiche Möglichkeit sein. Derzeit über Telefon und Video – aber ab 4. Mai wieder ganz persönlich.

Fotocredits: © antonbe, congerdesign, Anastasia Gepp und Tumisu jeweils über pixabay.com / Porträt: © Erik Rossiwall